Die Bundeswehr-Skandale in der jüngsten Vergangenheit offenbaren Führungsprobleme. Unklar ist, wer hierfür verantwortlich ist. Zumindest fällt auf, dass die in Armeen formal festgelegten Verhaltensstandards von oben nach unten nicht durchgesetzt werden können. Die Lösung liegt nach diesem Verständnis auf der Hand: noch bessere Schulung in Bezug auf das Regelwerk, noch intensivere Kontrolle der Einhaltung der Regeln sowie noch schärfere Sanktionen bei Verstößen. Doch möglicherweise wird dabei übersehen, welche grundlegende Bedeutung die Ausbildung informaler Normen für den Erfolg oder Misserfolg von Armeen hat.
So führten amerikanische Militärsoziologen schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg die Kampfmoral der deutschen Soldaten, die diese trotz der sich seit Stalingrad abzeichnenden Niederlage der Wehrmacht zeigten, auf Kameradschaftsnormen zurück. Dieses Pflichtgefühl gegenüber den in den gleichen Einheiten kämpfenden Soldaten hätte die Wehrmacht kampffähig gehalten. Kameradschaft ist eine spezifische Form von Kollegialität, die sich in jeder Organisation herausbildet. Sie hilft den Mitgliedern einer Organisation, ihre Arbeit gut zu verrichten, und minimieren das Risiko, entlassen zu werden. In manchen Organisationen, beispielsweise in Armeen, Polizeieinheiten oder Feuerwehren, entwickelt sich Kollegialität in Form von Kameradschaft, da in diesen Berufsfeldern die körperliche Unversehrtheit des einzelnen Mitglieds auf dem Spiel steht. Insofern ist Kameradschaft ein notwendiges Mittel, um die Überlebenschancen zu erhöhen.
Die Kameradschaft wiederum bildet sich im Schatten der offiziellen formalen Organisation durch das autonome, selbstinitiierte Handeln der Soldatinnen und Soldaten aus. Wenn jedoch jemand diese informalen Verhaltenserwartungen nicht akzeptiert, wird in Armeen zu negativen informalen Sanktionen gegriffen, beispielsweise durch abschätzige Bemerkungen oder Beschimpfungen, die soziale Isolierung des Kameraden oder die Verweigerung von Hilfeleistungen bis hin zu körperlichen Angriffen und drastischen Erniedrigungen. Dabei dienen die Sanktionen in der Regel nicht dem Ausschluss aus dem Kameradenkreis, sondern der Durchsetzung der informalen Normen. Insofern werden Soldaten oder Polizisten, die offiziell verbotene Bestrafungen nicht melden, sondern über sich ergehen lassen, konsequenterweise mit dem Verbleib im Kameradenkreis „belohnt“.
Obwohl es Prozesse, mit denen informale Normen durchgesetzt werden, in jeder Organisation gibt, nehmen die Prozesse bei der Polizei oder Bundeswehr eine gewaltbetontere Form an. Dies scheint wenig überraschend bei Organisationen, deren Hauptaufgabe die Gewaltanwendung ist und die zur Durchsetzung formaler Verhaltenserwartungen notfalls auf Gewaltspezialisten in Form von Feldjägern zurückgreift.