Etwa 825 Milliarden Euro gingen in der EU jedes Jahr durch Steuerhinterziehung und Steuervermeidung 2015 verloren – aktuellere Zahlen gibt es noch nicht. Spitzenreiter ist Italien mit geschätzten 190 Milliarden Euro pro Jahr, gefolgt von Deutschland mit 125 Milliarden Euro und Frankreich mit 117 Milliarden. Das ergab eine Studie, die von der sozialdemokratischen S&D-Fraktion im EU-Parlament in Auftrag gegeben worden war.
Obwohl der Datenbestand naturgemäß lückenhaft ist, geben die Daten einen guten Überblick über die Dimensionen des Problems. Danach hat sich der Steuerverlust der Staaten seit der Vorgängerstudie von 2009 um etwa 100 Milliarden Euro verringert, beträgt aber immer noch etwa das Fünffache des gesamten EU-Budgets. Gemessen an der Wirtschaftskraft Deutschlands – 2015 betrug das BIP rund 3 Billionen Euro – ist die Hinterziehungsquote in Deutschland nicht besonders hoch. In anderen Staaten, wie Rumänien, liegt die Quote viel höher. Der volkswirtschaftliche – und auch politische – Schaden ist dennoch riesig.
Beim Thema Steuerhinterziehung reflexartig nur an die großen multinationalen Konzerne – Apple, Google, Facebook, aber auch IKEA – zu denken, greift indes zu kurz. Diese nutzen Praktiken, die eher in die Kategorie Steuervermeidung fallen – Lücken in der Gesetzgebung, die vom Gesetzgeber so nicht gewollt waren, aber auch nicht direkt illegal sind. Den Schaden, der den Staaten durch die Konzerne entsteht, schätzt die Studie auf 50 bis 190 Milliarden Euro jährlich.
Der weitaus größere Teil der verlorenen Steuermilliarden geht aber auf das Konto der echten Steuerhinterziehung, heißt vor allem: Der Schwarzarbeit. Nach wie vor schaffen es auch verschärfte Kontrollen nicht, die unangemeldete Beschäftigung von Bauarbeitern, Kellnern, Pflegekräften, Haushaltshilfen, Nachhilfelehrern usw. zu unterbinden. Durch diese „Alltagsbetrügereien“ gehen dem Fiskus dreistellige Millionensummen verloren – direkt, aber auch indirekt dadurch, dass regulären kleinen und mittleren Firmen die Aufträge entgehen.
Die Sozialdemokraten im EU-Parlament fordern angesichts der Studienergebnisse konkrete Taten der EU. Tatsächlich bescheinigen Experten der Europäischen Union, dass sie unter den großen internationalen Organisationen die effektivste und innovativste bei der Bekämpfung von Steuerkreativität ist, besser und weniger anfällig für Lobby-Arbeit als beispielsweise die OECD, der IWF oder die Weltbank. Die Forderungen der Sozialdemokraten klammern den Bereich Steuerhinterziehung und Schwarzarbeit jedoch weitgehend aus und konzentrieren sich auf Maßnahmen gegen die Steuervermeider.
So fordern sie, dass die Unternehmen europaweit eine Minimalsteuer zahlen sollen, dass jedes Land offizielle Schätzungen über das Ausmaß von Steuerhinterziehung vorlegt, dass fragwürdige Steuerregelungen EU-weit abgeschafft werden, dass das Einstimmigkeitsprinzip bei Steuerentscheidungen aufgehoben wird oder dass die Schwarze Liste der Steueroasen auch auf EU-Staaten ausgeweitet wird – Forderungen, die zum großen Teil dem Europawahlkampf geschuldet sind. Vor allem die Aufhebung der Einstimmigkeit und die Erweiterung der Schwarzen Liste würden direkt EU-Länder treffen und haben daher praktisch keine Chance auf Umsetzung.
Dabei hat sich gerade die Schwarze Liste unter den Maßnahmen der EU gegen Steuersünder als effektiv erwiesen. Diese Liste wurde im Zuge der Enthüllungen der Panama-Papers 2017 erstellt und hat die Funktion eines Prangers. Sie listet Drittländer auf, deren Steuerpraktiken intransparent sind bzw. Mängel bei der Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Geldwäsche aufweisen, und die sich im Dialog mit der EU als nicht kooperativ gezeigt haben. Auf einer zweiten Grauen Liste landen Staaten und Gebiete, deren Steuerpraktiken zumindest zweifelhaft sind und die von der EU beobachtet werden. Dass der Druck durch die öffentliche Bloßstellung Wirkung hat, zeigt das Beispiel Liechtenstein. Das Land stand zunächst auf der Grauen Liste und beendete seine bemängelten Steuerpraktiken daraufhin. Wie wichtig das Instrument des Prangers ist, zeigt auch der immense Druck, der ausgeübt wurde, als die EU Anfang des Jahres bekannt gab, auch Panama und Saudi-Arabien in die Schwarze Liste aufnehmen zu wollen. Die USA sind darin bereits mit einigen ihrer Überseegebiete vertreten, den Jungfern-Inseln zum Beispiel. Auf Druck aus Riad und Washington wurden Panama und Saudi-Arabien schließlich nicht in die Schwarze Liste aufgenommen – zum Ärger nicht nur der Sozialdemokraten. Gefordert wird daher, die Liste auch auf EU-Länder mit zweifelhaftem Steuergebaren zu erweitern (die Niederlande, Malta, Zypern etwa gehören zu den Kandidaten), sondern auch, den Anprangerungen konkrete Strafmaßnahmen folgen zu lassen.