Heute hätte sie stattfinden sollen: Die erste Verhandlung vor dem Bundesgerichtshof (BGH) über eine Klage im Dieselskandal. Dass der Termin gestrichen werden musste, ist ein Erfolg für die Bemühungen des Autokonzerns, es nicht zu höchstrichterlichen Entscheidungen kommen zu lassen und potentielle weitere Kläger zu demotivieren. Der BGH veröffentlichte jedoch eine Stellungnahme zu dem Fall, in dem er klarstellte, dass die illegalen Abschalteinrichtungen in Autos tatsächlich einen Sachmangel darstellen – er stärkt damit prinzipiell die Position der Kläger.
Etwa 50.000 Klagen sind nach Angaben von VW wegen des Einbaus von manipulativer Software derzeit in Deutschland gegen den Konzern und VW-Händler anhängig. Etwa 400.000 geschädigte Kunden haben sich mittlerweile der Sammelklage von ADAC und des Bundesverbandes der Verbraucherzentralen Deutschland (VZBV) angeschlossen. Etwa 2,5 Millionen manipulierte Autos waren vom VW-Konzern verkauft worden. Auch wenn die Gesamtzahl der Klagen 2018 sprunghaft gestiegen ist und sich der Trend 2019 fortsetzt, hat VW die ganz große Klagewelle also offenbar bisher abgebogen. Die Taktik des Konzerns besteht aus einer Mischung von gezielter Halb- und Desinformation der Verbraucher und dem gezielten Verhindern höchstrichterlicher Entscheidungen dadurch, dass den Klägern, die es vor ein Oberlandesgericht oder den BGH geschafft haben, so hohe Vergleiche angeboten werden, dass sie nicht ablehnen können – verbunden mit einem Maulkorb, also der Verpflichtung, striktes Stillschweigen über den Inhalt des Vergleichs zu wahren.
VW wird nicht müde, zu betonen, dass viele der bis jetzt rechtskräftig gewordenen Urteile im Sinne des Konzerns entschieden worden sind. Was VW nicht dazu sagt, ist, dass viele dieser Klagen an rechtlichen und formellen Fehlern scheitern, die die Kernproblematik gar nicht berühren. Im Kern hat z.B. das Oberlandesgericht Nürnberg im Fall eines VW Tiguan, der mit der Abschalt-Software ausgestattet war, entschieden, dass die Software einen „erheblichen Mangel“ darstellt – damit hat der Kunde grundsätzlich Schadenersatzansprüche gegen den Hersteller. Der Fall scheiterte daran, dass der VW-Besitzer dem Hersteller eine zu kurze Frist zur Nachbesserung gesetzt hatte. Die Revision zum BGH ließ das OLG zu – VW schloss jedoch kurz vor der Verhandlung einen Vergleich mit dem Kläger. Dieser nahm die Revision zurück.
Auch das jetzt durch Vergleich beendeten Verfahren scheiterte vor dem OLG Bamberg daran, dass der Käufer von VW für seinen Wagen mit Schadsoftware einen anderen Wagen ohne Schadsoftware geliefert bekommen wollte. Das OLG bescheinigte ihm, die Ersatzlieferung sei nicht möglich, weil das VW-Modell so nicht mehr gefertigt werde. Das sahen die BGH-Richter in ihrer Veröffentlichung anders: Eine Ersatzlieferung könne der Hersteller nur verweigern, wenn die Kosten dafür unverhältnismäßig hoch seien. Das sei hier nicht der Fall gewesen.
Auch ein weiteres Hindernis für erfolgreiche Klagen haben Oberlandesgerichte beseitigt. VW hatte argumentiert, dass das Unternehmen mit der Einspielung eines Software-Updates, mit dem die Wirkungen der Abschalteinrichtung beseitigt werden sollte, seine Pflicht aus dem Kaufvertrag zur Lieferung eines mangelfreien Autos nachträglich erfüllt habe. Trete der Käufer nach dem Einspielen des Software-Updates vom Kaufvertrag zurück, müsse er beweisen, warum das Software-Update nicht funktioniere. Das OLG Köln drehte jedoch die Beweislast um: Der Hersteller bzw. Händler müsse beweisen, warum das Update funktioniert und dass der Kunde es als Nachbesserung akzeptiert hat. Wenn der Käufer vom Vertrag zurücktreten wolle, müsse er begründen, dass das Auto auch mit Update weiter mangelhaft sei – angesichts der bekannten negativen Auswirkungen des Updates auf die Fahreigenschaften (erhöhter Motorverschleiß, erhöhter Kraftstoffverbrauch, verschlechterte Motorleistung, erhöhter CO2-Ausstoß) sei das aber kein Hindernis.
Dennoch ist es VW bisher gelungen, in vielen Fällen, in denen Klagen vor den Oberlandesgerichten oder dem BGH gelandet waren, Vergleiche zu schließen und höchstrichterliche Urteile zu verhindern. Dabei warten die unteren Instanzen, bei denen tausende weitere Klagen anhängig sind, auf solche Urteile. Bedeutsam könnte in diesem Fall die Musterfeststellungsklage von ADAC und VZBV werden – es ist allerdings noch unklar, wann dieses Verfahren verhandelt wird. Zu den etwa 400.000 VW-Kunden, die sich der Klage bisher angeschlossen haben, könnten noch weitere kommen: Gestritten wird nämlich auch darum, wann die Verjährungsfrist für Klagen von VW-Kunden begonnen hat und wann sie demgemäß endet. Hätte sie z.B. erst mit der Anordnung erster Rückrufe durch das Kraftfahrt-Bundesamt 2016 begonnen, könnten VW-Kunden noch bis Ende 2019 klagen. Auch hierzu fehlen derzeit gerichtliche Entscheidungen.
In den USA wurde VW-Kunden im Schnitt 20.000 Dollar für kleinere Dieselautos mit 2 Litern Hubraum gezahlt, 40.000 Dollar für Autos mit 3 Litern Hubraum. In Deutschland wurden bisher die wenigsten Kunden entschädigt. Es wäre zu wünschen, dass sich weniger Menschen von der gezielten PR des VW-Konzerns entmutigen ließen und ihre Rechte geltend machen. Denn sie zahlen am Ende die Zeche – der VW-Konzern hat trotz des Abgasskandals in den Jahren 2016 und 2017 Rekordgewinne verbucht. Und auf Schützenhilfe der Politik dürfen die Geschädigten wohl auch in Zukunft nicht hoffen.