Schon seit jeher diskutieren Religion, Philosophie, Soziologie und die Rechtswissenschaft die Frage, was die Gesellschaftsmitglieder eigentlich davon abhält, Gesetze zu brechen. Die Antworten sind grob zweigeteilt in die Differenz von Wissen und Gewissen, oder auch von äußeren und inneren Schranken der Gesetzesverletzung, wobei mit den inneren Schranken das Gewissen, die Überzeugung von Recht und Gesetz und deren Gültigkeit, gemeint ist. Realisten trauen Moral und Anstand nicht, sondern betonen die abschreckende Wirkung der Sanktionsgewissheit. So würde nur die Androhung der raschen und konsequenten Bestrafung davon abhalten, sich über Regeln hinwegzusetzen.
Zwar hat die Soziologie hat in diesem langen Streit den Vorteil, solche Fragen zumindest in Teilen empirisch überprüfen zu können, doch die Schwierigkeit bei der Erforschung der Abschreckungswirkung von Strafen liegt in der Trennung zwischen Abschreckungseffekten und Erfahrungseffekten. Damit ist fraglich, ob die Erwartung der Strafe genügt, den Gesetzesbruch zu unterlassen, oder muss jemand zusätzlich schon einmal die Erfahrung einer Bestrafung gemacht haben? Hinzu kommt die Frage, ob gerade die Straferfahrung die Furcht vor ihr senkt und sind Strafandrohungen eher wirkungslos, wenn mangels Aufdeckung die Tat gar nicht gestraft wird? Schließlich ist die Nichtentdeckung und damit auch die Straflosigkeit eher die Regel als die Ausnahme.
Diese Fragen hören sich auf den ersten Blick akademisch an, doch in der Jugendkriminalität gehören sie zu den wichtigsten Fragen überhaupt. Sollen junge Erststraftäter sofort die volle Härte einer längeren Haftstrafe erfahren oder setzt man doch eher auf die abschreckende Wirkung einer Bewährungsstrafe? Diese Fragen haben nun die Soziologen Daniel Seddig, Helmut Hirtenlehner und Jost Reinecke an 1950 Duisburger Schülern untersucht. Die Schüler waren zu Beginn des Erhebungszeitraums im Jahr 2002 in einem Alter von 14 bis 17 Jahren. Die Jugendlichen sollten mitteilen, wie oft sie in den jeweils letzten 12 Monaten bestimmte Straftaten begangen hatten. Außerdem sollten sie einschätzen, wie wahrscheinlich es sei, bei einer Tat erwischt zu werden.
Dabei sind die Ergebnisse eher beunruhigend. So lassen sich tatsächlich Erfahrungseffekte der Vorjahreskriminalität auf die Sanktionsrisikowahrnehmung der Jugendlichen feststellen, doch diese bewegten sich nicht im gesellschaftlich gewünschten Ausmaß. Vermehrtes strafbares Handeln in den Monaten vor der Erhebung führte zu einer geringeren Risikoeinschätzung, in der Fachliteratur „experimentelles Lernen“ genannt. Dieses Ergebnis stelle die Abschreckungsthese auf den Kopf, denn nicht eine höhere Sanktionsrisikowahrnehmung führe zu weniger Kriminalität, sondern nur die persönliche Erfahrung mit Kriminalität führe zu einer realistischeren Risikoeinschätzung. In der heutigen Zeit bedeutet „realistisch“ allerdings „niedrig“.
Die überraschende Schlussfolgerung der Autoren lautet jedoch, dass die Forderung nach der Ausweitung des sanktionierenden Zugriffs auf jugendliche Straftäter „strafrechtlicher Populismus“ sei. Dieser Schluss scheint jedoch fraglich, da die Studie gerade einen erfahrungsgestützten Respektmangel jugendlicher Straftäter für die Rechtspflege zeigt, weil diese gerade nicht oder zu schwach sanktioniert.