Unerwartet könnte die SPD als Wahlverlierer aufgrund der neuen Unübersichtlichkeit in der Politik eine ihrer Herzensanliegen – die Bürgerversicherung - durchsetzen. Mit ihr sollen die Unterschiede zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung eingeebnet werden. Dann müsste jeder Bürger, jede Bürgerin einen festen Teil ihres Einkommens als Kassenbeitrag zahlen, auch gutverdienende Arbeitnehmer, Selbständige und Beamte. Dazu wäre dann auch das gesamte Einkommen, also inklusive eventueller Kapitaleinkünfte, beitragspflichtig. Die private Krankenversicherung als Alternative zur Gesetzlichen würde damit entfallen.
Begründet wird die Forderung nach der Bürgerversicherung durch den SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach vor allem damit, dass die "Zwei-Klassen-Medizin" in Deutschland beendet werden müsse. Dabei hätte rein systemtheoretisch eine Bürgerversicherung zweifellos Vorteile. Sie würde den schwer zu vermittelnden Umstand beseitigen, dass jemand, der weniger als 57 600 Euro im Jahr verdient (so die heutige Beitragsbemessungsgrenze), weniger Entscheidungsfreiheit bei der Krankenversicherung hat als derjenige, dessen Einkommen darüberliegt. Auch der Abbau der bisherigen Privilegien der Beamten, die privat versichert sind, dazu aber eine Beihilfe von ihrem Dienstherren (in Bayern zwischen 50 und 70 Prozent) erhalten, wäre richtig. Dazu sollte auch gering verdienenden Selbständigen der Einstieg in die Gesetzliche erleichtert werden. Insbesondere unter der Tatsache, dass heute viele junge Leute Start-ups gründen.
Doch die Vorteile wären teuer erkauft, da es große Übergangsprobleme geben würde. Da der Staat nicht in die laufenden privaten Versicherungsverträge eingreifen darf, würden diese noch Jahrzehnte lang bestehen bleiben, so lange bis der letzte privat Versicherte verstorben ist. Ob der Staat unter dem Gesichtspunkt gleichzeitig sämtliche junge Menschen in die Gesetzliche zwingen darf, ist strittig. Unstrittig ist dabei, dass die Versicherer vor Gericht um ihr Geschäftsmodell kämpfen werden.
Doch wie können steigende Gesundheitsausgaben sonst finanziert werden, ohne die Beitragszahler zu überfordern und ohne die Leistungen von Ärzten und Kliniken zu beschränken? Heute erscheint das Problem nicht dringlich, weil die Krankenkassen dank der guten Konjunktur über viel Geld verfügen. Doch durch den wissenschaftlichen Fortschritt und die Digitalisierung wird Medizin immer besser, aber auch teurer. Abhängig von der Perspektive ist das System heute schon zu teuer oder unterfinanziert. Mit den Zahlungen der Gesetzlichen kann ein Internist seine Praxis schon heute nicht mehr wirtschaftlich betreiben.
Die SPD dagegen verspricht sich sinkende Beiträge von ihrer Reform. Angesichts der zu erwartenden Übergangsprobleme ist das jedoch fraglich. Dabei haben die Niederlande hier schon Erfahrungen sammeln können. Dort wurde schon 2006 eine Bürgerversicherung eingeführt. Zwar wird über deren Ergebnisse bis heute gestritten, dennoch ist unstrittig, dass die Wartezeiten in den Kliniken seither gestiegen und die Kosten außer Kontrolle geraten sind. Daher wird im Nachbarland aktuell über eine neue große Reform debattiert.