Das Hartz-IV-System hat sich zu einem Bürokratiemonster entwickelt, das es in dieser Form nur in Deutschland gibt. Obwohl das Motto der Arbeitsmarktreformer "Fördern und fordern" heißt, wird zwar in den Jobcentern oft viel gefordert, doch seltener gefördert. Doch zu Anfang war das Motto eine gute Idee. Die rot-grüne Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder wollte mit der Agenda 2010 den Sozialstaat moderner machen und ersetzte die alte Sozialhilfe durch Hartz IV. Damit sollten die komplizierten Berechnungen von Leistungen für diejenigen, die zum Überleben Geld vom Staat brauchen, ein Ende finden. Die Pauschale von derzeit 409 Euro für Alleinstehende sollte möglichst alles enthalten. Doch nachdem nun zwölf Jahre vergangen sind, zeigt sich damit ein neues Bürokratiemonster.
Obwohl diejenigen, die staatliche Hilfe benötigen, per Gesetz mehr Eigenverantwortung erhalten und selbst entscheiden sollten, wie sie mit ihrem minimalen Budget auskommen, beginnt der Sozialstaat wieder, die Menschen zu entmündigen und für sie penibel alles zu regeln. Resultat ist eine Reihe von rechtlichen Exzessen. Vor dem Berliner Sozialgericht klagte beispielsweise eine alleinerziehende Verkäuferin an der Wursttheke, die als "Aufstockerin" Hartz IV bekam, weil ihr Verdienst für sie und ihr Kind nicht ausreichte. Weil sie in den Pausen von ihrem Arbeitgeber kostenlos etwas zu essen zur Verfügung gestellt bekam, zog das Jobcenter ihr 35 bis 50 Euro im Monat ab. Da die Verkäuferin jedoch die Gratis-Mahlzeiten aus gesundheitlichen Gründen nicht zu sich nahm, dürfe das Jobcenter ihr das Geld auch nicht abziehen. Das Gericht bestätigte die Hartz-IV-Empfängerin und mahnte die Jobcenter an, nicht in das Selbstbestimmungsrecht der Hartz-IV-Empfänger einzugreifen.
Aus diesem Fall wird ersichtlich, dass das einfach geplante Hartz-IV-System zu kompliziert geworden ist. So sollten ursprünglich rund ein Fünftel der knapp 60 000 Mitarbeiter in den Jobcentern die Leistungsansprüche der mehr als sechs Millionen Hartz-IV-Empfänger ausrechnen. Derzeit ist etwa die Hälfte der Mitarbeiter mit der Berechnung betraut. Schließlich umfassen zwei von drei Bescheide mehr als 20 Seiten, manche sogar bis zu 200. So ist es kein Wunder, dass die durchschnittliche Akte eines Hartz-IV-Haushalts etwa 650 Seiten dick ist. Damit werden enorme Personalressourcen für das Ausrechnen von Leistungen vergeudet. Die fatale Konsequenz im Versuch dieser Einzelfallgerechtigkeit: Die Hartz-IV-Empfänger vermuten Willkür bei den Behörden, weil sie nicht wissen, was ihnen zusteht. Daraus resultieren auch, allein in 2016, 640 000 Widersprüche und 115 000 Klagen bei 25 Millionen Bescheiden. Dazu können sich immer weniger Mitarbeiter um die Hartz-IV-Empfänger und Arbeitslosen kümmern. Doch dies wäre gerade nötig, damit das politisch gewünschte "Fördern" auch umgesetzt wird.
So muss eine große Koalition das Hartz-IV-Recht vereinfachen, Bagatellgrenzen einführen und die Prozesskostenhilfe für Hartz-IV-Empfänger an einen bestimmten Streitwert knüpfen, fordert der frühere BA-Vorstand Alt. Falsch gesetzte Anreize müssten weg. Beispielsweise dürfe der Staat Trennungen von Eltern nicht länger fördern, indem er zwei Alleinstehenden mehr Hartz IV bezahlt als einem Paar in einer Wohnung. Damit sich Arbeit wieder mehr lohne, müssten auch die Sozialbeiträge für Geringverdiener sinken.